Die Zauberwelt der Bücher: Vorlesen und dialogisches Lesen in Kita und Familien

Das Vorlesen ist eine magische Brücke zwischen der Welt der Bücher und der kindlichen Vorstellungskraft. In der pädagogischen Praxis nehmen das Vorlesen und insbesondere das dialogische Lesen einen herausragenden Stellenwert ein. Die neueste Pisa-Studie unterstreicht die Bedeutung von Lesekompetenz als Schlüsselqualifikation für den schulischen Erfolg bei älteren Kindern. Auch der Vorlesemonitor 2023 betont die Bedeutung des Vorlesens in frühem Alter. Vorlesen und dialogisches Lesen legen den Grundstein für eine solide Lesefähigkeit. Kinder, die frühzeitig in den Genuss dieser Praktiken kommen, entwickeln nicht nur ein besseres Verständnis für Texte, sondern auch Freude am Lesen, was sich positiv auf ihre schulische Laufbahn auswirken kann. Beide Methoden – klassisches Vorlesen und dialogisches Lesen – haben vielfältige Vorzüge, die wissenschaftlich belegt sind. Darum gehören sie zur täglichen Kita-Praxis und in jedes Zuhause von Kindern. Wie kann diese Kompetenz früh angeregt und aufgebaut werden?

Vorzüge des Vorlesens

Das Vorlesen bildet den Grundpfeiler einer kindlichen Beziehung zu Büchern. Durch das Zuhören erleben Kinder nicht nur spannende Geschichten, sondern entwickeln auch ein grundlegendes Verständnis für Sprache, Rhythmus und Struktur von Texten. Es fördert die sprachliche Kompetenz und erweitert den Wortschatz, was sich positiv auf die schulische Laufbahn auswirken und fürs gesamte Leben eine kräftigende Ressource werden kann. Laut Vorlesemonitor trägt das regelmäßige Vorlesen dazu bei, die sprachliche Kompetenz von Kindern signifikant zu verbessern (vgl. Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen 2023, S. 2). Auch die emotionalen Aspekte des Vorlesens sollten nicht unterschätzt werden. „Beim Vorlesen entsteht häufig eine dichte Atmosphäre zwischen Kindern und Erwachsenen“ (Näger 2017, S. 47), die das Vertrauen stärkt und Werte zu vermitteln imstande ist. Kinder lernen durch die Geschichten nicht nur die Welt um sie herum kennen, sondern auch wichtige soziale Kompetenzen.

Vorzüge des dialogischen Lesens

Das dialogische Lesen hebt sich durch seine interaktive Natur hervor. Hierbei geht es nicht nur darum, den Inhalt eines Buches zu lesen, sondern aktiv mit dem Kind in einen Dialog über Inhalte und Bilder zu treten. Werden dabei zum Nachdenken anregende Fragen gestellt, so kann der daraus entstehende Dialog das Denken anregen. Durch das Gespräch wird das Verständnis der Inhalte vertieft. Dies ermutigt die Kinder dazu, eigene Gedanken zu formulieren. Die Methode des dialogischen Lesens unterstützt nicht nur die sprachliche, sondern auch die soziale Entwicklung.

Kinder lernen, aufmerksam zuzuhören, sich auszudrücken und ihre Meinungen zu äußern. Dies trägt zum Selbstbewusstsein von Kindern bei und legt den Grundstein für kommunikative Kompetenzen in der Zukunft. Eine von vielen Untersuchungen hebt hervor, dass dialogisches Lesen einen besonderen Einfluss auf die kognitive Entwicklung hat. Die Studie zeigte, dass die Kinder durch Fragen und Diskussionen während des Lesens ihre Sprachfähigkeiten verbesserten, was sich durch einen größeren Wortschatz, häufigeres Sprechen und eine komplexere Satzstruktur zeigte. Auch die kritische Denkfähigkeit der Kinder wurde gestärkt (Şimşek/ Işıkoğlu 2015, S. 757f.; Hofmann 2023, S. 1).

Charakteristika beider Methoden

Vorlesen

Dialogisches Lesen

  • Der/Die Vorlesende vermittelt die Geschichte. Damit entsteht eine eher einseitige Kommunikation.
  • Es entsteht eine interaktive Kommunikation durch die aktive Einbeziehung der Kinder.
  • Fokus auf Wortschatz und Satzstrukturen. Das Lexikon der Kinder wird durch wiederholtes Vorlesen erweitert. Kinder lernen neue Satzstrukturen kennen und reichern so das passive grammatische Wissen an.
  • Fokus auf aktiver Sprachkompetenz. Der aktive Wortschatz wird erweitert und die Bedeutung von Wörtern wird durch Fragen vertieft. Zudem wird die Grammatik durch das Produzieren von Sätzen aktiv verbessert.
  • Mit den grammatikalisch korrekten Sätzen, die in der gesprochenen Sprache bedingt, in Büchern jedoch eingehalten werden, werden Kinder mit unserer Schriftsprache vertraut gemacht.
  • Betonung der kognitiven Entwicklung durch Fragen und Diskussion. Die Kinder erleben, wie Fragen gestellt werden, und bekommen Anregungen für ihre Grammatikentwicklung.
  • Das Zuhören stärkt die Konzentrationsfähigkeit der Kinder. Wer Kindern ein Buch häufiger vorgelesen hat, der weiß, dass sie ein Abweichen vom gedruckten Text sofort bemerken und auf den exakten Wortlaut der Geschichte bestehen.
  • Förderung von sozialen Fähigkeiten und selbstständigem Denken. Die Kinder werden angeregt, Inhalte zu hinterfragen und üben sich in dialogischen Kompetenzen, wie Zuhören, Verstehen, Fragenstellen, Antworten.

Die Zusammenschau zeigt, dass Vorlesen und dialogisches Lesen vielfältige Vorzüge haben. Beide Techniken sollten daher im Alltag der Kita und bei den Familien einen Platz haben.

Hilfreiches im Internet und Neues am Büchermarkt

Die Auswahl von Büchern sollte wohl bedacht werden. Auch wenn es nicht leicht ist, aus der großen Vielfalt von Neuerscheinungen einige wenige Bücher hervorzuheben, ist es Maren Bonacker (2023) gelungen, eine hilfreiche Vorauswahl zu treffen. Einige Titel stelle ich im nebenstehenden Kasten für Sie vor.

Eine Meer von Neuerscheinungen ….

Jährlich erscheinen in Deutschland rund 8000 neue Kinder- und Jugendbücher. Da kann man ins Staunen kommen, aber auch ins Grübeln: Wer soll diese Bücher sichten und daraus auswählen? Maren Bonacker (2023) hat in dem 50-seitigen Band eine hilfreiche Auswahl getroffen. Ich lege Ihnen für die Kita folgende Titel ans Herz:

Constanze von Kitzing (2023): Ich bin anders als du – ich bin wie du. Carlsen: Hamburg

Auf den ersten Blick unterscheidet sich ein Kind vom anderen. Neben Äußerlichkeiten gibt es jedoch auch nicht sichtbare Vorlieben, in denen sich Menschen gleichen oder nicht. Es lohnt sich, mit Kindern darüber zu sprechen, und Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu beschreiben. Das Buch zum Thema Vielfalt gibt es in mehreren Sprachen bei bi:libri.

Danielle Graf; Katja Seide (2022): Maxi, beeil dich! Beltz & Gelberg: Weinheim

Bevor Kinder einander in der Kita begrüßen, haben sie zu Hause zum Start in den Tag viel erlebt. Maxi bei seinen Erlebnissen nach dem Aufstehen zu begleiten, macht Freude und lädt zum Sprechen ein: Was haben die Kinder in der Kita heute früh erlebt?

Yvonne Hergane; Christiane Pieper (2020): Später, sagt Peter! Peter Hammer Verlag: Wuppertal

Peter verweilt gern im Hier und Jetzt, er entdeckt seine Umgebung mit allen Sinnen. Seine Mutter hingegen hat es sehr eilig, sie hat sich viel für den Tag vorgenommen. Ein wunderbares Buch über Zeit und was wir gemeinsam damit anfangen können.

Auf einige Aspekte beim Umgang mit beiden Methoden möchte ich hinweisen: Es lohnt sich für den Erwachsenen, ein Buch vor dem Lesen genauer zu betrachten. So können Sie sicherstellen, ob es die Themen der Kinder trifft, welche Inhalte und Ideen das Buch tatsächlich vermittelt und wie die grafische Umsetzung gelungen ist. Und Sie können sich vorbereiten, was Sie die Kinder fragen möchten.

Die folgenden Seiten bieten eine Menge an Inspiration und Material an:

  • Stiftung Lesen: Die Stiftung Lesen unterstützt mit verschiedenen Angeboten und Projekten die Leseförderung bei Kindern. Hier finden Sie auch praxisnahe Informationen und Materialien – auch gezielt für Kita-Fachkräfte.
  • Lesestart: Kostenlose Materialien und Tipps zur Leseförderung, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und durchgeführt von der Stiftung Lesen. Hier gibt es gezielte Buchempfehlungen sortiert nach Alter.
  • Kinderbuch-Couch: Hier finden Sie Rezensionen und Empfehlungen für Kinderbücher, sortiert nach Alter und Themen.

Vorlesen und dialogisches Lesen bergen nicht nur Bildungschancen, sondern sind zugleich Schlüssel zur Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit. In der zauberhaften Welt des Vorlesens wird jede Seite zu einem Abenteuer, welches Kinder in nahe und ferne Welten entführt und ihre Vorstellungskraft beflügelt. Bleiben Sie daher nicht nur Zuschauer, sondern aktive Gestalter:in dieser Reise! Nehmen Sie auch Ihre eigenen Lieblingsbücher zur Hand, stellen Sie neugierige Fragen, und lassen Sie die Kinder die Regisseure ihrer eigenen Abenteuer sein. Durch einfache und bedeutungsvolle Handlungen können Sie die Entwicklung der kommenden Generation entscheidend prägen. Reichen Sie das Geschenk des Lesens weiter, denn in jeder Seite verbirgt sich die Möglichkeit, eine lebenslange Liebe zur Literatur zu entfachen.

Mehr von Christina Henning

Literatur

Bonacker, Maren (Hrsg.) (2023): Auf Schatzsuche im Bilderbuchdschungel. Erfolgreiche Literacy-Arbeit in Kindertagesstätten. verlag das netz: Weimar

Institut für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen (2013): Vorlesen gestaltet Welten – heute und morgen. Vorlesemonitor 2023. Repräsentative Befragung von Eltern mit Kindern zwischen einem und acht Jahren. Abrufbar unter: https://www.stiftunglesen.de/fileadmin/PDFs/PM/2023/Vorlesemonitor2023_final.pdf (zuletzt aufgerufen am 08.01.2024)

Hofmann, Bianca (2023): Warum Sie Bilderbücher dialogisch lesen sollten. Sprachförderung in der Kita. Spezialausgabe: Ideen für die Sprachbildung. PRO Kita: Bonn. Heft Oktober 2023, S. 1-2

Näger, Sylvia (2017): Literacy. Kinder entdecken Buch-, Erzähl- und Schriftkultur. Herder: Freiburg im Breisgau

OECD (2023): PISA 2022 Country Notes – Deutschland. Abrufbar unter: https://www.oecd.org/media/oecdorg/satellitesites/berlincentre/pressethemen/GERMANY_Country-Note-PISA-2022_DEU.pdf (zuletzt aufgerufen am 08.01.2024)

Şimşek, Zeynep Ceren; Işıkoğlu, Nesrin (2015): Effects of the Dialogic and Traditional Reading Techniques on Children’s Language Development. Procedia – Social and Behavioral Sciences 197, S. 754-758 Abrufbar unter: https://www.researchgate.net/publication/282599313_Effects_of_the_Dialogic_and_Traditional_Reading_Techniques_on_Children%27s_Language_Development (zuletzt aufgerufen am 08.01.2024)

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