Erschaffen mit Herz, Hand und Verstand

Das blaue Pferd von Franz Marc tanzt, hüpft und schaut neugierig in die Welt

Tönen, schneiden, sägen, tanzen oder Spuren mit Farbe hinterlassen – das sind kindliche Tätigkeiten, die wir täglich bei den Kindern in den Kitas beobachten und dem Bildungs- und Entwicklungsfeld Erschaffen zuschreiben. Diese vielschichtigen Wahrnehmungs- und Handlungsprozesse eröffnen individuelle Erfahrungsräume, sich der Welt zu nähern. Staunend die Welt mit allen Sinnen und dem Verstand zu erleben, zu erkennen, zu vergleichen und auf sich wirken zu lassen. Durch die Beschäftigung mit künstlerischen Arbeitsweisen wird die individuelle Aneignungsweise von der Welt in Auseinandersetzung mit dem Selbst und dem Anderen angestoßen (vgl. Winderlich 2010, S. 7).

Die Verknüpfung innerer und äußerer Ereignisse wird durch sinnliche Regungen spür-, fühl- und empfindbar. Daraus können künstlerische Prozesse entstehen, die Erlebtes und Erfahrenes in klangliche, sprachliche und Bilder transformieren. Flüchtige Augenblicke werden sicht- oder hörbar. Persönliche Erfahrung erhalten einen Ausdruck. Schöpferisch tätig zu sein wirkt auf das Bewusstsein des eigenen Seins. Beim Erschaffen in der Kita geht es vor allem um die Wahrnehmung und Inszenierung der Selbstbildungsprozesse. Durch diese Prozesse – im Spiel, beim Malen oder Zeichnen, Ausprobieren der Stimme und Erleben von Geräuschen und Klängen – setzen sich die Kinder mit ihrer Welt auseinander (Winderlich 2010, S. 15). Im künstlerischen Tun liegen vielfältige Lernchancen: die Wirklichkeit intensiv und nachhaltig wahrzunehmen, Gefühle und Erfahrungen gestalterisch auszudrücken und zu verarbeiten. Künstlerisches Tun regt an, sich im selbständigen Arbeiten auszuprobieren und der selbst gefundenen Sichtweise zu trauen, eigene Sicht und Arbeitsweisen im Gespräch zu vertreten und kommunikative Kompetenzen zu entwickeln, Toleranz zu üben und das Bewusstsein über das Vorfindliche hinaus zu erweitern.

Erschaffen findet sich wieder …

Zu Erschaffen gehören alle Disziplinen der Künste: Malen und plastisches Arbeiten, Theaterspielen, Tanzen, Musizieren, Bauen und Konstruieren sowie das Spiel. Sie sind in erster Linie dem Atelier, dem Bewegungszimmer, der Werkstatt und dem Musikbereich sowie dem Bauzimmer und dem Rollenspielbereich zugeordnet. Ein schöpferischer Akt ist jedoch nicht verortet. Denn Erschaffen kann überall in der Kita stattfinden.

… in der Bildenden Kunst

Die Bildende Kunst ermöglicht den Kindern, einen fantasievollen Blick auf die Welt und einen leichten Zugang zu handwerkstechnischen Fähigkeiten. Sie fördert die Begegnung zu Farben, Formen und Farbmustern und deren Wirkung auf Stimmung und Gefühle sowie die Begegnung mit Kunstwerken und Lebensformen von Künstlern, unterschiedlichen Bauarten und der Kulturellen Vielfalt. Die praktische Auseinandersetzung mit Mitteln und Techniken stehen im täglichen Tun oft im Vordergrund. Fragt man im Kitaalltag nach Farben, wird meistens auf das Atelier verwiesen. Dort stehen bereitgestellte Ausdrucksmittel wie Stifte und Papier.

Bei einer Bildbetrachtung mit z. B. dem „Blauen Pferd“ von Franz Marc könnten Farben mit gezielten Fragen anders erleben werden: Welche Gefühle vermitteln grün oder gelb? Wo sind grün und gelb in der Natur zu finden? Warum ist dieses Pferd blau? Künstlerisches Tun im Atelier ist ein kreativer Prozess, eine schöpferische Handlung, mit der die Kinder Neues mit allen Sinnen freudvoll entdecken. Kinder sind „Um-die-Ecke-Gucker“, erleben neue Perspektiven und kreieren durch Fantasie ihre ganz eigene Welt. Wieso nicht im nächsten Schritt, Papier auf den Boden im Bewegungsraum legen und die Spuren des blauen Pferdes tanzend erleben? Erzieher:innen sind dabei Ko-Konstrukteur:innen: Beobachtend, begleitend mitlernend und mitstaunend. Sie bieten Kindern den Raum und die Zeit zum intensiven Eintauchen, Üben, Ausprobieren und die Möglichkeit, an einer Sache weiterzuarbeiten und voranzukommen.

… im musischen Erleben

Das Bild des tanzenden Pferdes lädt uns ein, sich der Musik zuzuwenden. Die Bedeutung von Musik ist in der Fachwelt unumstritten – besonders für die sprachliche, aber auch für die kognitive und sozial-emotionale Entwicklung (vgl. Hirler 2020). Kinder lieben es, Musik zu hören, sich zu dieser zu bewegen, zu singen, zu musizieren usw. Um diesen Bedürfnissen nachzukommen, ist es die Aufgabe der Pädagog:innen, den Alltag der Kinder mit Musik zu beleben und Anlässe zum Musizieren zu finden.

Es gilt also, musikalische Äußerungen von Kindern aufzugreifen sowie Kindern Begegnungen mit Musik zu ermöglichen. Im Sinne eines prozesshaften und ressourcenorientierten Handelns sollte einerseits so viel Freiraum wie möglich geboten werden, um den Rahmen für die Entwicklung von Kreativität, Fantasie, sozialer Kompetenz und Selbstvertrauen gewährleisten zu können. Andererseits sollten Aktivitäten zur konkreten Nachahmung angeboten werden. Für die Umsetzung im pädagogischen Alltag ist es wichtig zu berücksichtigen, dass Kinder Musik seltener stillsitzend erfahren, sondern sich aktiv verhalten. Musik wird mit dem ganzen Körper erlebt. Daher gilt es, passende Räumlichkeiten zu finden, eine reizarme Umgebung zu schaffen, die Bewegungsfreiheit ermöglicht. Musik und musisches Erleben soll allen Kindern leicht zugänglich sein, damit sie musikalische Eindrücke sammeln können und in unterschiedlichen Ausdrucksformen – tänzerisch, szenisch oder bildnerisch – weiterentwickeln (vgl. Hirler 2020; Schönbeck 2012). Das blaue Pferd hüpft und springt, ist leise und mal laut, wiehert und klappert mit seinen Hufen.

… im Theaterspiel

Die Lust an der Musik kann fürs Theaterspiel genutzt werden und andererseits auch die Lust an der Musik durch das Theaterspielen unterstützen. Beides bedeutet, sich selbst zu entdecken, und bietet zeitgleich gemeinsames Erleben. Im Theaterspiel verbinden sich Nachahmung und Imagination. Es ist ein Spiel, das auf die Alltagswelt Bezug nimmt und im Symbolspiel (so tun, als ob) erlebte Handlungen aufgreift, nachahmt oder abwandelt. Es ist selten eine Eins-zu-eins-Reproduktion. Im spielerischen Prozess entfaltet sich durch die Kreativität etwas Neues. Theater bietet einen Freiraum für schöpferische Fantasie und unbegrenztes Spiel ohne reale Konsequenzen. Beim Theaterspielen entsteht auch die Möglichkeit, in die reflexive Distanz zu sich selbst zu treten: das Kind schlüpft in eine andere Rolle, inszeniert sich vor Anderen als Anderer und erfährt sich als schöpferisch (Marquart/Jerg 2014, S. 15 ff). Das blaue Pferd macht sich auf die Reise.

… beim Bauen und Konstruieren

Erschaffen finden wir wiederrum auch bei Bauen und Konstruieren. Das blaue Pferd benötigt einen Stall, einen Schweif und hölzerne Freunde. Bauen und Konstruieren ist ein wesentlicher Teil des Erschaffens. Die Kinder erfahren hier ein erstes Verständnis für die räumliche Anordnung von Dingen, physikalische Gesetzmäßigkeiten und Statik. Im Vordergrund steht das organisierte Planen, das Anfertigen von Entwürfen und das praktische Arbeiten mit unterschiedlichen Materialien. Vielfältige Bauwerke, Maschinen oder Fahrzeuge sind Bestandteile der kindlichen Lebenswirklichkeit. Bauen und Konstruieren sind ein grundlegender Bestandteil des kindlichen Spiels: bauen, errichten, verbinden und trennen.

Neben ersten Erfahrungen mit Werkzeugen und dem Umgang mit Holz, Plastik und Metall erleben sie sich als Gestalter:innen. Vielfältige Materialien zur Phantasieanregung und Gestaltung sollten verfügbar sein. Zum Beispiel: Moos, Astscheiben, Korken/ Kronkorken, Alltagsmaterialien wie Becher, Stoffe, Kartons, Schwämme, Kastanien, Tannenzapfen, Eicheln, Holzspieße und Holzperlen sowie Ausrangiertes, wie alte Stromkabel, Kopfhörer, Platinen und alte Computer. Bauen und Konstruieren findet nicht nur im Werkraum oder auf dem Bauplatz statt, sondern kann in andere Funktionsräume wie Atelier, Bewegungsräume oder Garten übertragen werden.

Erschaffen ist auch Werkstattarbeit. Werkstattarbeit ist prozessorientiert, eine situative Arbeitsform und unterstützt entdeckendes, handlungsorientiertes und selbst organisiertes Lernen. Sie verbindet innere Aktivität mit äußeren Szenarien, bietet materielle und sozial anregende Situationen, lässt Freiraum für Entdeckungen und Experimente und ermöglicht labyrinthische Verstrickungen und Umwege. Im Zentrum des Lernens steht das praktische Tun und die gemeinsame Reflektion. Ausstellungen, Inszenierungen, Aufführungen zeigen, was geschaffen wurde, und bieten wichtige Impulse, Korrekturen, Bewertungen von außen, die verarbeitet werden müssen. Erschaffen ist eine übergreifende Stimulation in allen Bereichen der Künste. Es eröffnet Kindern und Erwachsenen Freiräume, unsere Welt neu zu entdecken. Erschaffen macht Freude. Nur Mut, es lohnt sich!

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weitere Autor:innen: Nadja Rieger, Daniel Jacobi-Kessel, Eva Bohnert, Leyla Cimengil, Orkan Tan

Literatur

Hirler, S. (2020): Handbuch Rhythmik und Musik. Herder: Freiburg, Basel, Wien.

Marquart, P.; Jerg, S. (2014): Theaterspielen mit Kindern ab zwei Jahren. Cornelsen: Berlin

Schönbeck, J. (2012): Musikalische Bildung im Elementarbereich. Hochschule für Künste: Bremen.

Winderlich, K. (2010): Kunst und Ästhetik. Cornelsen: Berlin

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