Gelingende Interaktion mit schüchternen Kindern

Anna sitzt leise in der Leseecke und beobachtet von dort die anderen Kinder. Als es zur Aufräumzeit klingelt, zieht sie sich noch ein Stück weiter in die Ecke zurück. Dort wartet sie, bis sie ganz unbeobachtet in die Kinderkonferenz (Kiko) gehen kann. Auch dort setzt sie sich an den Rand. Kiko-Leiterin möchte sie heute auf keinen Fall sein!

Kinder wie Anna gibt es in allen unseren element-i Kinderhäusern. Wie gelingt es mir als Pädagog:in, schüchterne Kinder nicht aus dem Blick zu verlieren? Neben den vielen lauten, scheinbar beliebten Kindern? Wie beziehe ich sie in die Aktivitäten der Gemeinschaft ein, wenn sie es doch so offensichtlich nicht wollen?

Doch was bedeutet der Begriff schüchtern?

Schüchternheit ist erst einmal ein alltagspsychologischer Begriff und bezieht sich auf die Motivation einer Person. Sie dient der Erklärung, warum soziale Routinen oder Handlungen unterlassen werden. Kurz um: Schüchternheit ist eine Erklärung sozialen Verhaltens (vgl. Aspendorf 1989, S. 18). Dies zeigt sich durch Rot-Werden, einen flauen Magen oder starkes Herzklopfen (vgl. pro-Kita.com 2021). Merkmale von Schüchternheit sind u.a.

  • Probleme mit der Kontaktaufnahme
  • das Gefühl, anders zu sein
  • wenige oder keine Freundschaften zu haben
  • Rückzug in die Gedankenwelt
  • Minderwertigkeitsgefühle
  • das Gefühl, die Erwartungen der Erwachsenen nicht erfüllen zu können. (vgl. Stöckli 2008, S. 3)

Ursachen für Schüchternheit

Die Persönlichkeitsentwicklung findet vorrangig im Kindesalter statt. Kinder müssen sich im Verlauf ihres Heranwachsens Kompetenzen, Verhaltensweisen und Normen aneignen, um in der Gesellschaft bestehen zu können. Die Kinder entwickeln ihr Selbstbild Stück für Stück (vgl. Stöckli 2008, S. 1). Das Selbst entsteht durch innere psychische Ordnungsmuster. Dazu muss sich das Kind mit seiner Umwelt auseinandersetzen. Die so gesammelten und bewerteten Erfahrungen legen sich als Gedächtnisspuren ab, die wichtigsten sind die psychosozialen. Durch die dadurch entstehende innere Struktur sind wir handlungsfähig, können wir uns orientieren. Teilweise sind wir uns dieser inneren Vorgänge bewusst, teilweise aber auch nicht (vgl. Fröhlich-Gildhoff 2011, S. 4f.).

Laut der Zwei-Faktoren-Theorie von Jens Aspendorf aus der Persönlichkeitspsychologie beruht soziale Gehemmtheit entweder auf angeborenen Temperamentsmerkmalen, oder sie ist eine Folge wiederholter sozialer Ablehnung. Neurowissenschaftlich gesehen, ist die Amygdala (auch Mandelkern genannt) schüchterner Personen leichter reizbar. Dadurch werden in unbekannten Situationen Stressreaktionen hervorgerufen. Alle genannten Aspekte legen nahe, dass die Ursachen für Schüchternheit zum Teil angeboren sind, immer aber auch mit der Entwicklung des eigenen Selbstbildes zusammenhängen. Wenn die Zurückhaltung von Geburt an besteht, kann sie also im Laufe der Entwicklung bestehen bleiben oder auch nachlassen. Abhängig ist das von der Prägung durch die Familie und das Umfeld (vgl. Kästner 2020, S. 12ff.). Beides – Schüchternheit durch wahrgenommene soziale Bewertung und Gehemmtheit vor dem Unbekannten – ist mit Angst verbunden (vgl. Martin et al. 2020, S. 104).

Entscheidend ist, dass Kinder – egal ob sie unsicher, ängstlich, sozial zurückgezogen oder in ungewohnten Situationen gehemmt sind – eine besondere Entwicklungsförderung benötigen. Allerdings gilt vorneweg zu sagen: solange diese Verhaltensweisen nicht extrem sind, bergen sie wie alle anderen Ausprägungen der Persönlichkeit sowohl Chancen als auch Risiken (vgl. Martin et al. 2020, S. 125).

Vorteile und Risiken für die Entwicklung

Durch die Angst in sozialen Situationen kann die Entwicklung der Selbstregulation optimiert sein. Das bedeutet, dass weniger aggressives Verhalten sichtbar wird. Dazu kommt, dass Forscher herausgefunden haben, das ängstliche Säuglinge mehr Schuld- und Schamgefühle zeigen, aber auch mehr Empathie. Weiterhin können diese Kinder teilweise Bedrohungen stärker wahrnehmen, sich bewusst fokussieren und Regeln besser verinnerlichen (vgl. Martin et al. 2020, S. 126). Schüchterne Kinder neigen dazu, die sozialen Kontakte zu minimieren und damit zur Isolation. Dadurch fehlt die Übung unterschiedlicher Interaktionen, und komplexe soziale Fähigkeiten werden später gelernt. Aber auch auf den eigenen Ausdruck und die Talente können erhöhte Ängstlichkeit und soziale Unsicherheit Auswirkungen haben, da die Durchsetzungsfähigkeit fehlt. Dadurch werden schüchterne Kinder oft unterschätzt. Zudem suchen sie eher die Interaktion mit Menschen, denen sie vertrauen. Das kann den sozialen Status negativ beeinflussen und schränkt die Auswahl an Vorbilder für die eigene Entwicklung ein. Die Folge kann weitere Ausgrenzung sein (vgl. Martin et al. 2020, S. 127f.).

Umgang mit schüchternen Kindern

Zunächst einmal gilt – wie eigentlich immer – das Kind genau zu beobachten. Nutzen Sie dafür den element-i Reisepass. Vor allem die Matrix gibt die Möglichkeit, ein umfassendes Bild des Kindes zu zeichnen. In welchen Situationen tritt die Zurückhaltung auf? Gibt es Momente, in denen das Kind geradezu aufblüht – laut und wild ist oder selbstbewusst agiert? Welche Stärken und Interessen hat das Kind in den einzelnen Bildungs- und Entwicklungsfeldern? Welches Bedürfnis liegt hinter dem Verhalten des Kindes?

Neben der Beobachtung und Dokumentation hilft es, um gelingend mit schüchternen Kindern interagieren zu können, sich mit der element-i Konzeption auseinanderzusetzen. Wir möchten in unseren element-i Kinderhäusern Kinder dazu erziehen, ihre Kompetenzen, Stärken, Potentiale zu entdecken, weiterzuentwickeln, diese auch gelingend zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen und damit Verantwortung für ihr Tun übernehmen zu können. Ganz nach unserem Erziehungsziel: Individualität als Sozialprinzip. Das bedeutet für den Umgang mit schüchternen Kindern, feinfühlig darauf zu achten, was diese brauchen, immer wieder Teil der Gemeinschaft werden zu können und nicht im Alltag unterzugehen. Auch die Leitlinien (autonome) Verbundenheit und (verbundene) Autonomie in den Blick zu nehmen kann helfen, um herauszufinden, was es von mir als pädagogischer Fachkraft im Umgang mit schüchternen Kindern braucht. Kinder haben grundsätzlich das Bedürfnis nach Verbundenheit, dazuzugehören, gesehen zu werden. Daneben aber auch frei und selbstbestimmt agieren zu können. Das gilt auch für schüchterne Kinder. Um diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, ist es im Umgang mit zurückhaltenden Kindern besonders wichtig, sie nicht zu überfordern oder gar zu bedrängen. Es ist bedeutsam, ihnen zu signalisieren: du bist gut, so wie du bist. Auch wenn du dafür etwas mehr Zeit, Zuspruch oder Unterstützung brauchst als andere. Seien Sie besonders einfühlsam und geduldig. Ansonsten bestätige ich von außen das innere Bild des Kindes, dass es selbst nicht genug ist, und es zieht sich ggf. immer weiter zurück. Die Schüchternheit als solche vor anderen anzusprechen oder gar zu kritisieren, hilft ebenfalls nicht weiter. Überlegen Sie sich stattdessen, wie das Kind Selbstbewusstsein tanken kann und Erfolgserlebnisse hat. Diese können Sie auch gerne hervorheben und benennen: „Ich habe gesehen, wie du dich gerade getraut hast, den anderen zu erklären, wie man einen tollen Turm bauen kann – das fand ich richtig mutig von dir! Und schau, die anderen haben deinen Vorschlag angenommen und probieren es gleich aus.“

Zutrauen schenken und Selbstwert stärken

Um solche Erlebnisse vermehrt im Alltag möglich zu machen, hilft es, gerade schüchternen Kindern immer wieder anzubieten, kleine Aufgaben und damit Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Kleine Aufgaben im Alltag könnten sein: den Tisch decken, die Lätzchen zusammenlegen, einen Gegenstand allein in einen anderen Raum tragen, ein Lied im Singkreis aussuchen oder vorschlagen. Auch hier gilt wieder: binden Sie die Stärken und Interessen des jeweiligen Kindes ein. Das gibt ihr oder ihm das Gefühl sich in einem sicheren Terrain zu bewegen.

Dabei ist wichtig, im Blick zu behalten, dass die Kinder diese Aufgaben meistern können, und die schüchternen Kinder eben genauso im Fokus sind wie die lauten und beliebten Kinder. Aber Achtung: Seien Sie behutsam und haben die Häufigkeit im Blick. Gerade am Anfang braucht das Kind vielleicht Pausen von der Aufmerksamkeit. Bei besonders ängstlichen Kindern kann der erste Schritt sein, vermehrt in die Beobachterrolle zu gehen. Wie machen die anderen Kinder das? Was gelingt ihnen oder auch nicht? Wie fühlen sie sich dabei? Dadurch entstehen Vorbilder, die den ersten Schritt, selbsttätig zu werden, stärken können.

Eigene Haltung reflektieren

Ein weiterer Aspekt im Umgang mit zurückhaltenden Kindern ist das eigene Bild des jeweiligen Kindes zu reflektieren. In welche Schublade habe ich es vielleicht schon gesteckt? Schauen Sie gerne als Team darauf. Als Methode können Sie beispielsweise die kollegiale Fallberatung nutzen. Denn Ihre Haltung gegenüber dem Verhalten des Kindes prägt Ihr Handeln. Grundlage hierfür sind oft autobiografische Erfahrungen. Wichtig ist daher im Blick zu haben, was die Schüchternheit in mir auslöst: Fühle ich mich dem Kind besonders verbunden, weil ich mich selbst schon einmal ähnlich gefühlt habe? Oder habe ich wenig Verständnis für das Verhalten, weil mir die Ursache bisher nicht bewusst war? Was erwarte ich von dem Kind, und kann es meine Erwartungen erfüllen? Was macht das Kind neben der Schüchternheit aus?

Schüchternheit passiert nicht willentlich und damit immer unbewusst. Hilfreich ist es, schüchterne Kinder deshalb nicht zu unterschätzen. Wie oben beschrieben, haben Ängstlichkeit, Zurückhaltung und Schüchternheit positive Auswirkungen auf das Verhalten und die Entwicklung der jeweiligen Kinder. Auch sie können sich in die Gruppe einbringen, manchmal sogar laut und wild sein. Aber sie brauchen dafür den richtigen Rahmen und demnach eine pädagogische Fachkraft, die diesen steckt. Sie sollten vor allem den zeitlichen Faktor berücksichtigen: Zurückhaltende Kinder brauchen in der Regel mehr Zeit. Unterstützen Sie das Kind dabei, mit den negativen Aspekten ihrer Gehemmtheit umzugehen. Ihre (negative) Reaktion auf das Verhalten des ängstlichen Kindes können besonders viel Auswirkung haben: sie reagieren ungewöhnlich sensibel, und die ausgelösten Emotionen können sehr lange Bestand haben. Es hilft auch, wenn Sie den Umgang in den Gesprächen mit den Eltern thematisieren. Wie können Sie gemeinsam den richtigen Rahmen für das jeweilige Kind stecken – Pädagog:innen im Team und Eltern?

Rituale schaffen

Rituale im Alltag helfen ungemein dabei, das Gefühl von Sicherheit herstellen zu können. Diese einzuführen oder bestehende zu erweitern ist im Umgang mit schüchternen Kindern wichtig. Sich wiederholende Abläufe und Regelmäßigkeiten sind entscheidend. Gerade in Übergangssituationen gehen schüchterne Kinder leicht unter oder sind überfordert. Die Eisenbahn zum Händewaschen oder das gleiche Abschiedsritual am Morgen können dem Kind helfen, sich wohlzufühlen und sich dadurch zu lösen.

Rollenspiele

Auch Rollenspiele können dabei unterstützen sich neu zu entdecken und ganz anders zu erleben. Der Schutz der Rolle und vielleicht Verkleidung / Schminke kann einem schüchternen Kind helfen, mutig und selbstbewusst, wie ein Superheld oder eine Superheldin zu sein. Dazu können Sie gezielte Impulse anbieten, die Sie aktiv vorbereiten und begleiten. Der Fokus liegt hier aber nicht nur auf dem eigenen Erleben, sondern auch darauf, etwas zu kreieren, etwas Eigenes zu schaffen und das in einer Gruppe zu tun. Natürlich können Kinder auch allein in eine andere Rolle schlüpfen. Aber gerade der Aspekt, das gemeinsam mit anderen zu tun und die Erfahrung zu machen, wie ich mit meinem Verhalten auf andere wirke und dadurch Rückmeldungen und Reaktionen erwirke, kann schüchternen Kindern helfen, neue Erfahrungen zu machen und Ängste abzubauen. Auch hier gilt: bitte nicht drängen! Selbst wenn das Kind die anderen nur beobachten möchte, lernt es dadurch neue Verhaltensweisen kennen oder fühlt sich Stück für Stück mit der Gruppe verbunden, weshalb es schließlich in die Lage versetzt wird, mitzumachen und sich einen Schritt weiter zu trauen. In der Regel können zurückhaltende Kinder in kleinen Gruppen mit vertrauten Kindern leichter aufblühen. Daher gilt es im Alltag auch solche Situationen möglich zu machen.

Auch hierzu kann es hilfreich sein, mit den Eltern des Kindes in den Austausch zu gehen: wie verhält sich das Kind in anderen Situationen / Kontexten? Gibt es Möglichkeiten, das Kind durch ein neues Hobby, regelmäßige Spielplatzbesuche, Kontakte zu Gleichaltrigen zu Hause weiter zu stärken?

Es gibt viele Ansatzpunkte, gelingende Interaktionen mit schüchternen Kindern aufzubauen und sie Stück für Stück dabei zu begleiten, Teil der Kita-Gemeinschaft zu werden. Dadurch machen Sie die Kinder stark für ihren weiteren Weg.

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Literatur 

Aspendorf, Jens (1989): Soziale Gehemmtheit und ihre Entwicklung. Springer-Verlag Berlin Heidelberg. 

Fröhlich-Gildhoff, Klaus (2011): Ausgangspunkt der Entwicklung: Das Selbst als handlungsleitende Struktur. Verfügbar unter: https://www.kita-fachtexte.de/de/fachtexte-finden/ausgangspunkt-der-entwicklung-das-selbst-als-handlungsleitende-struktur (letzter Zugriff am 26.03.2024) 

Kästner, Sven (2020): Schüchternheit bei Kindern: Zurückhaltend, aber glücklich. Verfügbar unter: https://www.herder.de/kizz/hefte/archiv/2020/2-2020/zurueckhaltend-aber-gluecklich/ (letzter Zugriff am 26.03.2024) 

Martin, Roy P.; Lease, Michele A.; Slobodskaya, Helena R. (2020): Temperament und Kinder. Profile der individuellen Unterschiede. Springer Nature Switzerland. 

Pro-Kita.com (2021): Schüchternheit bei Kindern: Tipps für einen richtigen Umgang. Verfügbar unter: https://www.pro-kita.com/padagogik/kindergarten/umgang-schuechterne-kinder/ (letzter Zugriff am 26.03.2024) 

Stöckli, Georg (2008): Persönlichkeitsentwicklung in Kindergarten und Grundschule: Was fehlt schüchternen Kindern wirklich? Symposion im Rahmen der Didacta Stuttgart. Verfügbar unter: Forschungsbereich Kind und Schule (kind-und-schule.chhttps://kind-und-schule.ch/sch%C3%BCchternheit) (letzter Zugriff am 26.03.2024) 

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