„Wieso mache ich gerade das so, wie ich es tue?“ – Einführung in die Methode: Reflexionsrunde

Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf einer sehr hohen Brücke. Die Brücke führt über einen tiefen Fluss. Am Horizont sehen Sie hohe schneebedeckte Berge. Ihre Füße sind mit einem Seil umwickelt. Sie spüren eine leichte Brise. Und jetzt: Sie springen! Welche Bilder entstehen bei Ihnen im Kopf? Achten Sie auf das, was Sie wahrnehmen. Welche körperlichen Reaktionen und Gefühle sind spürbar. Welche Erfahrungen kommen an die Oberfläche des Bewusstseins? Das elastische Seil federt Sie wieder zurück in die Höhe. Bis es sich langsam auspendelt. Ihr Herz wummert. – Schnitt!

Stellen Sie sich vor, Sie gehen an diesem Fluss spazieren. Sie verfolgen die Wasserströmung und Ihr Blick wandert nach oben auf die Brücke. Hier sehen Sie eine Traube von Menschen in der Mitte der Brücke und eine der Personen steht kerzengerade auf der Brüstung. Von beiden Seiten wird sie von Menschen gehalten. Die Linsen der Fotokameras blitzen auf. Unten im Fluss liegt ein Rettungsboot bereit. Und jetzt springt die Person. Welche Bilder entstehen in Ihrem Kopf? Sind es beiden Situationen dieselben? Welche Erfahrungen zeigen sich hier

Dieselbe Situation erzeugt höchstwahrscheinlich unterschiedliche Perspektiven, Eindrücke und Wahrnehmungen. Zugegebenermaßen sind nicht alle unsere täglich erlebten Situationen so aufregend wie die oben beschriebene. Dennoch sind unsere Wahrnehmungen oft sehr unterschiedlich und machen es uns oft schwer, Situationen aus Blickwinkeln von anderen zu verstehen oder überhaupt zu erkennen. Andererseits stellen andere Perspektiven für uns eine wesentliche und notwendige Öffnung unserer wahrgenommenen Welt dar. Wir erleben eine Situation aus jeder Perspektive anders und neu. Keine Blickrichtung ist die allein gültige. Jede Situation enthält mehr Aspekte, als die reine Kapazität der Informationsverarbeitung des Handelnden fassen kann. Dies kann individuell unterschiedlich sein. Zudem sind einzelne Aspekte auf vielfältige Weise miteinander verwoben. Sie sind interdependent und beeinflussen sich untereinander. Übertragen wir dieses Gedankenspiel auf die Arbeit im Kinderhaus. Nehmen wir die vielseitigen Blickrichtungen ernst, bieten sie Offenheit für Gestaltungschancen und Entfaltungsmöglichkeiten im System.

Bedienen wir uns noch einmal des Bildes am Fluss, wäre ein Dialog zwischen Beobachter und Springer eine wertvolle Ergänzung der jeweiligen Wahrnehmung des anderen. Im Kinderhaus stehen Sie in intensiver Wechselwirkung zu Kolleg:innen und Kindern. Kind und Kolleg:in nehmen Situationen aus ihrer Sicht wahr und handeln entsprechend. Zum Teil anders als erwartet, anders als vereinbart, anders als vorgeschlagen und mit anderen Ergebnissen.

Für Ihre persönliche Weiterentwicklung und die qualitative pädagogische Weiterentwicklung des Teams ist das Hinterfragen von Handlungen in ausgewählten Situationen ein sinnvoller Weg. Es eröffnen sich neue Perspektiven und Zugänge anderer, erlauben miteinander zu reflektieren, zu partizipieren und mitzugestalten. Keine unausgesprochene Situation erzeugt zukünftig mehr ein Vakuum, sondern ein fortwährendes Lernen. Alle Teammitgliedern lernen mit- und voneinander, pädagogische Situationen im Alltag zu beobachten, zu beschreiben, zu erkennen und die daraus entstandene Intention zu verstehen. Aus dem gemeinsam gewonnenen Bild ist die Lösung leicht abzuleiten.

Für dieses Lernen im Team eignet sich die Reflexionsrunde wunderbar. Eine Methode, abgeleitet aus der integrativen Mediation, welche sich hervorragend zur Betrachtung von Situationen eignet und nachhaltige Lösungsstrategien offenbart. Hier verfolgen wir den Aspekt des Lernens „Double-Loop-Model“ des Psychologen Chris Argyris und des Philosophen Donald Schön. Ziel ist es, das eigene Handeln, persönlichen Normen, Werte, Taktiken und Ziele zu reflektieren und gegebenenfalls zu ändern. Im Gegensatz zu einfachem Verbesserungslernen werden beim Double Loop Learning Prämissen, neue Wissensräume und grundlegende Verhaltensänderungen, die über situatives Ändern hinausgehen, ermöglicht. Wenn ein Team nachhaltig Ursachen von Fehlern beseitigen will, ist der double loop essenziell. Dabei werden Prozesse und Abläufe auseinandergenommen und eine tiefere Analyse möglich.

Abbildung: Double Loop Learning von G. Kraus (abrufbar unter: https://kraus-und-partner.de/wissen/wiki/double-loop-learning (zuletzt aufgerufen am 20.4.24)

Die Reflexionsrunde ist einfach in der Durchführung und kann eine große Strahlkraft erzeugen. Eine einzige Voraussetzung ist notwendig, dass sie gelingen kann: die gegenseitige Legitimation eines wertfreien Austausches von beobachteten und/oder wahrgenommenen Situationen im Alltag und die freiwillige Bereitschaft aktiv mitzuwirken. Schauen Sie sich in die Augen und erlauben Sie sich alle Alltagssituationen wertfrei zu schildern und zu betrachten. Die Nachhaltigkeit der erarbeiteten Lösungen und Erkenntnisse werden Sie zeitnah im Alltag schätzen lernen.

Bitte beachten Sie: negative Formulierungen und Du-Botschaften sind zu vermeiden. Formulieren Sie daraus besser ein passendes Thema. Nach dieser klaren Kommunikationsvereinbarung und Vorgehensweise im Team unterteilt sich die Reflexionsrunde in einzelne Schritte:

  1. Die Orientierung: Zu Beginn jeder Sitzung gilt es, Aufgabenstellung, Fragen und Wünsche, zeitlichen Rahmen, Informationsstand sowie Moderationsrolle und Protokollant:in zu klären. Für die gewonnenen Vereinbarungen eignet sich eine Ablage, in der nur diese Vereinbarungen niedergeschrieben werden. Sie sollten für alle Teammitglieder schnell und einfach nachzulesen sein. Der Gewinn dieser Arbeit spiegelt sich wider in den niedergeschriebenen Vereinbarungen und einer Fortführung derer.
  1. Situationsanalyse: Alle Teammitglieder bringen aus dem Alltag beobachtete oder erlebte pädagogische Situationen mit und bringen diese eigenverantwortlich in die Sitzung ein. Es werden so viele Situationen beleuchtet, wie die Zeit erlaubt. Bleiben dringliche Themen offen, werden Verantwortlichkeiten verteilt, das jeweilige Thema bis zur nächsten Teamsitzung zu bearbeiten. Verantwortlichkeit heißt jedoch nicht, dass eine Person das Thema allein bearbeitet. Die verantwortliche Person kann sich Unterstützung aus dem Team holen. Themen, bei denen aufgrund der Zeit oder aufgrund der Komplexität nicht zu einer gemeinsamen Lösung gefunden wurde, werden ebenfalls an Teambeteiligte verteilt. Die Einbringung des Themas erfolgt jedoch direkt in der nächsten Teamsitzung und nicht in der nächsten Reflexionsrunde. Das konkrete Vorgehen sieht wie folgt aus: Eine Person schildert eine Situation aus dem Alltag und nennt alle wesentlichen Aspekte, welche für sie von Bedeutung sind. Gefühle, Anliegen und Intentionen sowie auch Fragestellungen zu der beobachteten oder erlebten Situation werden benannt. Die Zuhörenden hören aktiv zu und stellen im Anschluss Fragen bzw. geben ein Feedback zum bereits Gehörten, präzisieren ungenaue Formulierungen, bis ein gesamtes Bild für alle entstanden ist.
  1. Themen und Arbeitsfelder finden und priorisieren: Der Übergang zur Situationsanalyse ist fließend. In der Situationsanalyse zeigen sich zumeist unterschiedliche Themen, welche klar benannt werden. Die Zuhörenden sammeln die gehörten Themen auf und versichern sich, ob Inhalt und Wortdefinition übereinstimmen. Falls sich viele Themen zeigen, ist eine Priorisierung notwendig. Die Teilnehmer:innen entscheiden, welches das wichtigste Thema ist ggf. auch das zweitwichtigste. Die Aufmerksamkeit sollte auf dem wichtigsten liegen. Erfahrungen zeigen, dass das wichtigste Thema andere Themen oft impliziert.
  1. Intentionen: Wünsche, Bedürfnisse, Interessen und Zielvorstellungen: Dieser Schritt ist das Herzstück dieser Methode. Es geht darum aufzudecken, was sich hinter dem einzelnen Thema verbirgt. Im gemeinsamen Dialog mit Fragestellungen wird das Thema hinter dem Thema beleuchtet. Welche Bedürfnisse verbergen sich hinter dem Verhalten? Welche Interessen spielen eine Rolle? Auf welchen Grundsätzen, Gesetzen oder Vereinbarungen beruht die Aussage? Was wurde bisher als Lösung erarbeitet? Was ist passiert? Je intensiver das Thema erforscht, zerteilt wird und das Team dem Wesenskern des Themas nahekommt, umso schneller und nachhaltiger wird die Lösung erkannt und kann umgesetzt werden.
  1. Lösungsfindung und Realitätscheck: Nach der Klärung der Intentionen geht es darum, Lösungsmöglichkeiten zu finden. Brainstorming vereinfacht, alle Lösungsoptionen aufzuzeigen, ohne direkt zu diskutieren oder zu bewerten. Falls es viele Intentionen gibt, ist eine Visualisierung hilfreich. Bei einer Fülle von Lösungsmöglichkeiten ist sowohl die Bewertung im Team und dessen Realisierbarkeit ein Entscheidungskriterium.
  1. Vereinbarungen: Nachdem die Lösung endgültig klar ist, wird vereinbart, wer für was verantwortlich ist, wer welche Aufgabe oder Aktivität übernimmt und was in welchem Zeitraum durchgeführt werden soll bzw. wann die Nachhaltigkeit überprüft wird.
  2. Gewinn: Am Ende jedes Zyklus gilt es einen abschließenden Blick auf das, was erreicht wurde, zu werfen und zusammenzuführen. Welche Themen wurden bearbeitet? Was wurde erreicht? Was gibt es noch zu bearbeiten? Ein positiver Rückblick motiviert alle Teilnehmer:innen und ein Dankeschön schließt die Runde ab.

Lernen setzt Kräfte frei, mit denen das Team agiler wird. Gemeinsames Lernen motiviert. Die Offenheit, die Perspektiven anderer zu erkennen und wertzuschätzen, fördert ein Klima, das ein Nachfragen und Experimentieren ermöglicht. Veränderungen können stattfinden. Freuen Sie sich über die unterschiedlichen Sichtweisen und Betrachtungen der Kolleg:innen. Sie öffnen uns allen die Türen in die lebendigen Räume der Welt.

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